Endoskopische Praxis am Tegeler See
PD Dr. med. Jürgen Bauditz
Eisenhammerweg 20, 13507 Berlin
Entstehung von Darmkrebs aus Polypen
Der New Yorker Onkologe Bert Vogelstein entdeckte um 1990, dass sich Darmkrebs aus gutartigen Polypen entwickelt und hat damit die Basis für die Darmkrebsvorsorge mittels Darmspiegelung geschaffen. Bei der sogenannten Adenom-Karzinom-Sequenz entstehen mit der Zeit (üblicherweise Jahre) aus zunächst harmlosen, gutartigen kleinen Polypen durch fortschreitende Genmutationen innerhalb des erkrankten Gewebes langsam stärkere Zellveränderungen, die als Dysplasien (zunächst leichte, später mittlere und schwere Dysplasien) bezeichnet werden, bis irgendwann die Grenze zum Krebs überschritten ist.
Dies betrifft über 90-95% der Fälle. Bei einigen Patienten spielen zudem genetische Faktoren eine Rolle, auch existieren atypische Polypen wie serratierte Adenome oder flache Adenome (serrated adenoma pathway, flat adenomas). Bei einigen Menschen ist das Wachstum von Polypen vermutlich aufgrund genetischer Ursachen beschleunigt, auch serratierte Adenome scheinen teilweise schneller zu wachsen.
Als die Darmspiegelung zur Krebsvorsorge vor einigen Jahrzehnten eingeführt wurde, hat man zunächst die Ihnen vielleicht bekannte 10-Jahre-Regelung eingeführt. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass es sich bei einer Krebsvorsorge alle 10 Jahre auch bei unauffälliger erster Vorsorgeuntersuchung um einen sehr langen Zeitabstand handelt. Immer wieder wird Darmkrebs bei Patienten diagnostiziert, die vor 7-10 Jahren eine unauffällige Darmspiegelung hatten. Viele Wissenschaftler gehen heute daher davon aus, dass solche Zeitintervalle zu lang sind.
Werden bei einer Darmspiegelung Polypen entdeckt, werden diese sogleich entfernt. Patienten, die bereits Polypen hatten, neigen dazu, wieder Polypen auszubilden und müssen daher häufiger bzw. engmaschiger kontrolliert werden.
Schematische Darstellung der Entstehung von Darmkrebs aus Polypen:
Zunächst gutartige Darmpolypen sind durch das zunehmende Auftreten wachstumsfördernder Mutationen gekennzeichnet. Im Laufe der Jahre kommt es bei Vorhandensein zahlreicher Mutationen zum Entstehen hochgradiger Dysplasien bzw. Darmkrebs mit ungehemmtem Zellwachstum.
Darmkrebs und Ernährung
Viele fragen sich, was sie tun können, um Ihr Risiko für Darmkrebs zu senken. Da die Ursache von Darmkrebs noch nicht bekannt ist, ist die Antwort darauf nicht einfach. Aus epidemiologischen Studien ist bekannt, dass Darmkrebs häufiger in Ländern bzw. Bevölkerungsgruppen mit höherem Konsum an Fleisch, insbesondere rotem Fleisch bzw. Rindfleisch auftritt. Passenderweise ist Indien, das Land der „heiligen Kühe“, das Land mit den wenigsten Darmkrebsfällen.
Weitere Untersuchungen zeigen, dass Darmkrebs in Ländern wie Japan, in denen wenig Landtiere, jedoch viel Fisch gegessen wird, Darmkrebs selten ist, ebenso Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Koronare Herzkrankheit und Herzinfarkte. Japaner erkranken hingegen häufiger an Magenkrebs.
Interessanterweise übernehmen Japaner, die in die USA ausgewandert sind, nach 1-2 Jahrzehnten in Amerika die statistischen Krebsrisiken weißer US-Amerikaner, d.h. sie erkranken u.a. häufiger an Darmkrebs (und auch häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen). Aufgrund solcher Daten nimmt man an, dass Ernährungsfaktoren bei der Entstehung und Begünstigung verschiedener Krebserkrankungen von Bedeutung sind.
Ob es jedoch tatsächlich Rindfleisch oder ein anderer bzw. damit assoziierter Faktor ist, der Darmkrebs begünstigt, ist noch unklar. Harald zu Hausen, der deutsche Nobelpreisträger, der entdeckt hat, dass Gebärmutterhalskrebs durch das Papillomavirus HPV 16 verursacht wird und somit eigentlich eine Infektionskrankheit darstellt (ebenso das Analkarzinom und häufig Krebs im Rachenbereich) hat die Hypothese aufgestellt, dass die überwiegende Zahl von Darmkrebsfällen durch ein bisher nicht identifiziertes Virus von Tieren, am ehesten Rindern, verursacht wird und über den Konsum von Fleisch bzw. Rindfleisch auf den Mensch übertragen wird. Zur Zeit ist dies jedoch lediglich eine Theorie.
Krebs durch Viren und Bakterien
Man nimmt heute an, dass weltweit bei bis zu 25% aller Krebserkrankungen Viren und Bakterien beteiligt sind.
- Gebärmutterhalskrebs, Enddarmkrebs und Rachenkrebs
Harald zur Hausen stellte bereits 1976 die Hypothese auf, dass Gebärmutterhalskrebs (der dritthäufigste Krebs bei Frauen) durch Warzenviren (Papillomaviren) verursacht wird. Bis er beweisen konnte, dass tatsächlich das Papillomavirus HPV 16 Gebärmutterhalskrebs verursacht und ein Impfstoff entwickelt wurde, vergingen 3 Jahrzehnte. Der Nobelpreis folgte 2008, 32 Jahre später.
Heute wissen wir, dass Gebärmutterhalskrebs, das Analkarzinom und viele Fälle von Krebs im Hals/Rachenbereich (z.B. bei dem Schauspieler Michael Douglas) Infektionskrankheiten durch Papillomaviren darstellen.
Interview mit Michael Douglas zu seinem Rachenkrebs
Die These eines Rinder- bzw. Tiervirus als Verursacher von Darmkrebs wird zurzeit überwiegend kritisch bis ablehnend betrachtet, m. E. stellt sie eine interessante Hypothese dar. Ob sie sich letztlich bestätigen wird, ist jedoch noch offen. Fest steht, dass in einem Teil der Fälle auch genetische Faktoren eine Rolle spielen.
Wie Eingangs bereits dargestellt: Sollten in Ihrer Familie bereits Fälle von Darmkrebs aufgetreten sein, weisen Sie wahrscheinlich ein erhöhtes Risiko, selbst an Darmkrebs zu erkranken, auf. Dies gilt insbesondere, wenn einer Ihrer Verwandten vor dem 50. Lebensjahr an Darmkrebs erkrankt ist. Auch, wenn sehr viele andere Krebserkrankungen in Ihrer Familie aufgetreten sind, kann möglicherweise ein genetisches Syndrom vorliegen und Ihr Krebsrisiko erhöht sein.
- Magenkrebs
Das Magenbakterium Helicobacter pylori wurde vor einigen Jahrzehnten durch die australischen Ärzte Dr. Warren und Dr. Marshall entdeckt. Von den ersten auffälligen Befunden einschließlich eines Selbstversuches durch Dr. Marshall 1979 und der Veröffentlichung der Untersuchungen 1982 verging etwa ein Jahrzehnt, bis die damals revolutionäre Hypothese durch die internationale Mehrheit der Mediziner anerkannt wurde. Der Nobelpreis folgte 2005, 26 Jahre nach dessen Entdeckung.
Interview zum Nobelpreis mit Dr. Warren und Dr. Marshall
Heute wissen wir, dass Helicobacter pylori eine chronische Magenschleimhautentzündung verursacht, die Hauptursache für Magengeschwüre ist und den wichtigsten Risikofaktor für Magenkrebs darstellt. In Deutschland sind insgesamt etwa 33 Millionen Menschen mit Helicobacter infiziert, von denen ungefähr 10 bis 20 % im Laufe ihres Lebens ein Geschwür entwickeln.
Durch die zunehmende Verwendung von Breitbandantibiotika und Beseitigung der Infektion ist Magenkrebs die einzige Krebserkrankung, die seit Jahrzehnten in westlichen Industrienationen an Häufigkeit abnimmt.
Helicobacter pylori ist auch der wichtigste Risikofaktor für Magenkrebs. Eine im Jahr 2020 im New England Jornal of Medicine erschienene Studie zeigte, dass durch die erfolgreiche Beseitigung einer Helicobacter pylori-Infektion des Magens (sog. „Eradikation“) das Risiko, an Magenkrebs zu erkranken, um 55% reduziert wird!
New England Journal of Medicine 2020: Studie zu Helicobacter und Magenkrebs
- Leberkrebs
Auch andere Krebserkrankungen werden durch Viren oder Bakterien verursacht: Leberkrebs entsteht häufig durch eine langjährige Infektion mit Hepatitis B- oder Hepatitis C-Viren. In Asien sind diese Infektionskrankheiten weit verbreitet, die Erkrankung ist so häufig, dass in Japan – wie bei uns für Darmkrebs – Vorsorgeprogramme für Leberkrebs existieren. Durch die Leberkrebsvorsorge konnte die Sterblichkeit an Leberkrebs in Japan drastisch gesenkt werden.
Leberkrebs: Epidemiologie, Risikofaktoren und Krebsvorsorge
- Krebs bei Tieren: Übertragung von Krebs durch Bisswunden
Ein extremes Beispiel für die Entstehung von Krebs durch eine Infektion ist der Tasmanische Teufel. Die Tiere beißen sich bei Revierkämpfen gegenseitig ins Gesicht und übertragen damit Gesichtstumore, an denen die Tiere sterben (sog. Devil Facial Tumour Disease). Hier wird ebenfalls eine Virusinfektion durch Bisse übertragener Zellen vermutet, die Isolierung eines Virus ist jedoch bislang nicht gelungen.
Das Entstehen chronischer tumoröser Entzündungen ist auch von anderen Infektionserkrankungen wie der Lepra oder der Tuberkulose bekannt, jedoch in dieser agressiven Form in der Natur bisher nicht beobachtet worden. Aufgrund dieser durch Bisse übertragenen Krebserkrankung ist der tasmanische Teufel mittlerweile vom Aussterben bedroht.
Chronische Entzündung: Ursache von Krebs und vorzeitiger Alterung
1. Umwelteinflüsse und Chronische Entzündung
Viele Krebserkrankungen entstehen auf dem Boden chronischer Entzündungen in den verschiedenen Organen. Die Ursachen für diese chronische Entzündung können durch Krankheitserreger oder toxisch bedingt sein.
Ein Beispiel für infektiös begünstigte Krebserkrankungen sind Magenkrebs und das Magenlymphom (MALT-Lymphom). Beide entstehen am häufigsten auf dem Boden einer chronischen Mageninfektion mit Helicobacter pylori Bakterien.
Speisenröhrenkrebs wiederum ist ein Bespiel für eine toxisch bedingte Entzündung im Körper: Dieser entsteht in den meisten Fällen durch eine chronische Entzündung, die durch vom Magen in die Speiseröhre zurückfließende Magensäure verursacht wird. Dies wird als Refluxkrankheit bzw. Refluxösophagitis bezeichnet, der sog. Barrett-Ösophagus stellt die Vorstufe von Speiseröhrenkrebs dar.
Warum entsteht Krebs auf dem Boden chronischer Entzündungen? Eine chronische Entzündungsreaktion verursacht einen permanenten Reiz für vermehrtes Zellwachstum, es liegt ein sog. gesteigerter Zell-Turnover vor. Bei über Jahre bestehendem vermehrtem Zellwachstum treten wiederum gehäuft Mutationen als Fehler im Zellwachstumsprozess auf.
Addieren sich langfristig diese Mutationen, kommt es irgendwann zu einem ungeordneten Zellwachstum. Sobald eine einzelne Zelle so viele Mutation aufweist, dass sie sich jeglichen Regulationsmechanismen des Körpers entzieht, vermehrt sie sich unendlich. Krebs bedeutet letztlich nichts anderes als unkontrolliertes Zellwachstum.
Chronische Entzündungsvorgänge stellen höchstwahrscheinlich den wichtigsten Mechanismus zur Entstehung von Mutationen und Krebserkrankungen dar. Eine andere Ursache für das Auftreten von Mutationen ist energiereiche Strahlung wie Radioaktivität oder intensive Sonnenstrahlung: Hier schädigt die Strahlung die Erbsubstanz direkt, ohne den Umweg über eine Entzündung.
2. Genetische Ursachen
Ein Teil der Krebserkrankungen ist erblich bedingt bzw. ist bereits in Ihren Genen angelegt. Auch bei noch so gesunder Lebensführung mit Vermeidung aller bekannten Risikofaktoren kann es so zum Auftreten von Krebserkrankungen kommen.
Was können Sie dagegen tun: Nutzen Sie die Möglichkeiten der Krebsvorsorge, die die moderne Medizin bietet, insbesondere, wenn in Ihrer Familie bereits gehäuft Krebserkrankungen aufgetreten sind.
Der Alterungsprozess
Welches Lebensalter ein Mensch erreicht, liegt überwiegend in seinen Genen begründet. Welche Gene hier von besonderer Bedeutung sind, ist noch weitgehend ungeklärt und Gegenstand weltweiter Forschung.
Der natürliche Alterungsprozess (beispielsweise überschreitet bekanntlich ein Sportler etwa mit 30 den Höhepunkt seiner körperlichen Leistungsfähigkeit) mit nachlassender Zellregeneration stellt normale Regulationsmechanismen des Körpers dar.
Menschen altern jedoch unterschiedlich schnell, was nicht immer auf genetische Veranlagung zurückzuführen ist. Zahlreiche Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre zeigen, dass eine vermehrte Zahl chronischer Entzündungsherde bzw. Entzündungsprozesse im Körper mit einer vorzeitigen Alterung und verkürzter Lebenserwartung einhergeht.
Streben Sie eine hohe Lebenserwartung bei guter körperlicher Leistungsfähigkeit an, bedeutet dies, dass chronische Entzündungsherde in Ihrem Körper allgemein möglichst vermieden bzw. medizinisch behandelt werden sollten.
PubMed: Wissenschaftliche Literatur zu Entzündung und Alterungsprozess
Ernährung und gesunde Lebensführung
Was gesunde Lebensführung betrifft, ist Ihnen bereits alles Wesentliche bekannt. Niemand bezweifelt ernsthaft, dass es gesund ist, Normalgewicht zu erzielen, sich regelmäßig körperlich zu bewegen, nicht zu rauchen und nicht zu viel Alkohol zu trinken.
Anders verhält es sich mit der Ernährung. Zunächst wurde Ihnen empfohlen, nicht zu fett zu essen, dann, nicht zu viel Süßes zu essen. Der eigentlich chemische Begriff Kohlenhydrat hat Eingang in unsere Alltagssprache gefunden. Wenn Sie also wenig Fett und wenig Süßes oder Kohlenhydrate essen sollen, bleibt nur noch Eiweiß als Hauptnahrungsquelle übrig, das kann jedoch – da sind sich auch fast alle Ernährungswissenschaftler einig – nicht die Lösung sein.
Durch weitere Ernährungsempfehlungen wie vegetarische, vegane Kost oder Fokussierung auf einzelne scheinbar sehr gesunde oder ungesunde einzelne Nahrungsmittel wurde die Situation komplizierter. Heute ist Essen zu einem Gegenstand vieler Diskussionen geworden, die Zahl verschiedenster Empfehlungen ist endlos. Für manche ist Ernährung geradezu eine Art von Religionsersatz geworden.
Es ist jedoch zu beachten, dass die Ernährungswissenschaft eine noch junge Wissenschaft ist und viele Behauptungen eigentlich Vermutungen sind. Epidemiologische Ernährungsstudien sind aufgrund zahlreicher Variablen unterschiedlichen Lebensstils grundsätzlich schwierig zu interpretieren, experimentelle Studien weisen oft methodische Mängel auf. Glauben Sie nicht alles, was Sie in Büchern, Zeitungsartikeln oder im Internet lesen. Eine oder wenige Studien sind noch kein Beweis.
Gesunde Ernährung: Fettarm oder Zuckerarm?
Die in den 1970er Jahren in den USA entstandene Ernährungsempfehlung, den Fettgehalt in der Nahrung zugunsten von Kohlenhydraten und Zucker zu reduzieren, beruht u.a. auf der berühmten 7-Länderstudie der Harvard Universität, die heute jedoch als methodisch höchst mangelhaft betrachtet wird.
Aufgrund offizieller Empfehlungen für eine fettarme Ernährung begann die Nahrungsmittelindustrie den Fettgehalt von Nahrungsmitteln zu reduzieren und hat stattdessen den Zuckeranteil in vielen Nahrungsmitteln erhöht. Zucker ist als Rohstoff billig, angenehm im Geschmack und wirkt geschmacksverstärkend.
Parallel wurde Nahrung in westlichen Industrienationen immer preiswerter, auch die Einzelportionen und Verpackungseinheiten wurden zunehmend größer, Beispiele hierfür sind Coca-Cola-Flaschen, Süßigkeitenverpackungen (kauft jemand heute noch einzelne Schokoriegel?) und die Menüs von Fast Food Ketten.
Beides zusammen hat zu einer in der Menschheitsgeschichte beispiellosen Epidemie an Übergewicht und massenhaftem Auftreten von Zuckerkrankheit geführt. Während es in Deutschland 1945 etwa 100.000 Diabetiker gab, liegt die Zahl von Zuckerkranken heute bei 8-10 Millionen. Tatsächlich handelt es sich um ein weltweit zunehmendes Phänomen, z.B. wird die Zahl der Typ II Diabetiker in Indien auf 115 Millionen geschätzt!
Parallel entstand eine Schlankheitsindustrie, nach erfolgreichen Diäten kommt es fast immer zum berühmten Jo-Jo-Effekt, da diejenigen ihre Diät nicht als langfristig befriedigend und sättigend empfinden.
Gegen eine kohlenhydratreiche Ernährung ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Es existiert auch nicht die eine einzige gesunde Ernährungsweise. Weltweit sind über Jahrhunderte zahlreiche traditionelle Ernährungsarten entstanden, die grundsätzlich als gesund zu betrachten sind. Die einzige Ernährung, von der die Ernährungswissenschaft mit Sicherheit weiß, dass sie ungesund ist, ist die moderne westliche Ernährung.
Der Hauptgrund dafür ist, dass sie zu viel Zucker und andere, schnell vom Körper aufgenommene Kohlenhydrate enthält. Zucker ist heute ein so selbstverständlicher Bestandteil unserer Ernährung, dass manche glauben, der menschliche Körper benötige Zucker zur Ernährung. Tatsächlich jedoch ist Zucker in größeren Mengen ein in der Menschheitsgeschichte sehr neuer Nahrungsbestandteil.
18. Jahrhundert: Industrieller Zucker kommt nach Europa
Der französische Adel des 17. und 18. Jahrhunderts gehörte zu den ersten Europäern, die sich Zucker leisten konnten. Der Zucker stammte aus den Kolonien, war jedoch noch ein teurer Luxusartikel. Die Folge war, dass noch nie eine Gruppe von Menschen so schlechte Zähne hatte wie der europäische Adel dieser Zeit.
Ludwig der XIV. hatte im Alter von 40 keinen einzigen Zahn mehr, was den damals üblichen Verhältnissen entsprach. Konsequenterweise galt es als vornehm, den Mund geschlossen zu halten. Die Zahnheilkunde entwickelte sich erst, die Zahnbürste mußte noch erfunden werden, der Chirurg Pierre Fauchard prägte den Begriff Zahnarzt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren die Pariser Zahnärzte mit der Erfindung von Gebissen aus Porzellan weltweit führend.
Ein Kunstskandal im Paris vor der französischen Revolution wirft ein erhellendes Schlaglicht auf die damaligen Zustände. Eine Dame der vornehmen Gesellschaft wagte es, sich entgegen der allgemeinen Konvention mit einem Lächeln zu porträtieren, dass ihre gesunden Schneidezähne zeigte. Da sich die vornehme Gesellschaft mit ihren verfaulenden Zähnen brüskiert fühlte, stellte das Abbilden gesunder Zähne bereits einen Skandal dar, nachzulesen in „Colin Jones: Die Revolution des Lächelns“.
Eine andere amüsante Anekdote der Geschichte des Zuckers ist, dass es unter Chinesen zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft Mode war, sich die Zähne schwarz anzumalen, um den vornehmen englischen Kolonialherren mit ihren vom Zucker verdorbenen Zähnen zu ähneln.
Madame Vigée Le Brun und ihr „skandalöses“ Lächeln
Zucker verändert das Essverhalten
Ein hoher Anteil an Zucker in der Nahrung verändert die Appetitregulation und das Hungergefühl. Eine Mahlzeit, die reich an Zucker oder Stärke (Weißmehlprodukte / Kartoffeln) ist, führt zu einer starken Insulinausschüttung. Nachdem der Zucker verarbeitet worden ist, führt verbliebenes Insulin nach einiger Zeit jedoch erneut zu Hunger und dem Wunsch nach einer Zwischenmahlzeit, um den Zuckerspiegel im Blut erneut ansteigen zu lassen.
Sie müssen also erneut essen, um Ihr Insulin zu „verbrauchen“. Es existieren Tumore, die sog. Insulinome, die ständig unreguliert Insulin produzieren. Patienten, die an dieser sehr seltenen Tumorerkrankung leiden, fallen durch eine starke Gewichtszunahme auf, da sie ständig an Heißhungerattacken leiden und essen müssen. Jemand, der gewohnt ist, mehrmals am Tag größere Mengen Zucker zu essen, trainiert seinen Körper ebenfalls auf permanent hohe Insulinspiegel, die wiederum ein ständig wiederkehrendes Hungergefühl aufrechterhalten.
Da Insulin auch den Fettabbau unterdrückt und die Einlagerung von Fett in die Fettzellen fördert, fördern hohe Insulinspiegel über einen weiteren Mechanismus eine Gewichtszunahme. Auch in der Tierhaltung, namentlich in der Schweinemast, wurde Insulin erfolgreich verwendet, um die Tiere zügig fett werden zu lassen.
Nehmen Sie hingegen Fett, Eiweiß oder Kohlenhydrate, die im Körper nur langsam freigesetzt werden (z.B. in Vollkornprodukten) zu sich, kommt es zu einer nur geringen Insulinausschüttung und Heißhungerattacken bleiben aus. Bei einer Ernährungsumstellung benötigt der Körper jedoch einige Wochen, um sich umzugewöhnen.
Fructose und Fettleber
Üblicher Zucker bzw. „Haushaltszucker“ ist ein Glucose-Fructose-Doppelmolekül, das im Körper aufgespalten wird. „Haushaltszucker“ besteht daher zu 50% aus Glucose, dem sog. Traubenzucker, der durch Insulin verarbeitet wird. Die anderen 50% sind Fructose, sog. Fruchtzucker. Glucosesirup besteht häufig zu mehr als 50% aus Fructose.
Glucose wird durch Insulin zu Fett umgewandelt und in Fettzellen gespeichert. Da Menschen in ihrer gesamten Evolutionsgeschichte nur wenig Fructose konsumiert haben, existiert im menschlichen Körper jedoch kein vergleichbares Stoffwechselsystem für Fructose. Die Folge ist, dass Fructose noch in der Leber zu Fett umgewandelt wird, was einerseits zu einer Leberverfettung und andererseits zu erhöhten Spiegeln schlechten Cholesterins im Blut führt. Fructose ist damit als besonders schädlicher Zuckerbestandteil zu betrachten.
Fructoseintoleranz ist eine äußerst seltene Krankheit, bei der die Betroffenen aufgrund eines angeborenen Enzymmangels von Geburt an überhaupt keine Fructose vertragen. Menschen mit angeborener Fructoseintoleranz haben typischerweise auch im höheren Alter völlig gesunde Zähne ohne Karies oder Zahnfüllungen.
Die heute häufiger diagnostizierte Fructose-Unverträglichkeit ist insofern weniger als Krankheit, sondern eher als Normvariante und Symptom unserer modernen zuckerreichen Ernährung zu betrachten. Auch die Lactoseintoleranz ist keine Krankheit, sondern lediglich eine nachlassende Aktivität des Enzyms Lactase in der Darmwand. Bei 90 % der Weltbevölkerung nimmt die Lactase-Aktivität im Erwachsenenalter ab, lediglich in Nordeuropa und Nordamerika ist unser Organismus durch die Milchwirtschaft als Bestandteil unserer Kultur so an Kuhmilch gewöhnt, dass die Lactase-Aktivität zumeist erhalten bleibt.
Mehr Fett wagen
Bei Ernährungsempfehlungen existieren noch immer 2 Schulmeinungen, solche, die fettarmes Essen befürworten und diejenigen, die überzeugt sind, dass primär eine Ernährung mit wenig Zucker und geringerem Anteil schnell resorbierbarer Kohlenhydrate (Weißmehlprodukte wie Gebäck und Nudeln, Kartoffeln, weißer Reis) zu empfehlen ist. Heute ist bekannt, dass die verschiedenen Arten von Blutcholesterin differenzierter zu betrachten sind und Zucker eine wichtige Ursache für erhöhte Cholesterinspiegel ist. Die deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin hat neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechend vor einigen Jahren erstmals ihre Ernährungsempfehlungen hinsichtlich eines höheren empfohlenen täglichen Fettkonsums geändert.
Eine vollständig zuckerfreie Kost ist nicht erforderlich, jedoch sollte Zucker in viel größerem Maße als bisher als etwas Besonderes auf dem Speiseplan betrachtet werden. Verwenden sie Zucker eher wie ein Gewürz und nicht als Grundnahrungsmittel! Fett wiederum halte ich persönlich für unbedingt nötig, um ein länger anhaltendes Sättigungsgefühl zu erzielen und nach einer Gewichtsabnahme Jo-Jo-Effekte zu vermeiden. Pflanzliche ungesättigte Fette sind besonders günstig, ebenso Fischöl, jedoch besteht medizinisch keine Notwendigkeit, völlig auf tierische Fette zu verzichten. Sollten Sie gern Butter essen, sollten Sie wissen, dass irische Butter von Weidetieren etwa 10% mehr ungesättigte Fettsäuren als übliche Butter aufweist und somit als gesünder zu betrachten ist. Ähnliches gilt für Fleisch von Weidetieren bzw. Tieren, die artgerecht ernährt werden, auch dieses Fleisch besteht aus gesünderen Nahrungsbestandteilen als Fleisch aus industrieller Stallhaltung.
Diejenigen, die jetzt frohlocken, dass sie abendlich Ihren Rotwein mit Käse genießen können, muss ich jedoch leider darauf hinweisen, dass Alkohol ernährungsphysiologisch ähnlich wie Zucker zu betrachten ist – und eben auch als etwas Besonderes auf dem Speiseplan behandelt werden sollte.
Weiterführende Bücher und Videos zu Ernährung
Wenn Sie sich für das Thema interessieren, hier einige empfehlenswerte Bücher und Filme zum weiteren Studium:
1. Michael Pollan: Essen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht als Essen erkannt hätte.
Hier handelt es sich um eine kurz gefasste Sammlung einfacher Empfehlungen, die Sie inspirieren können, über gutes Essen nachzudenken.
Das wichtigste, was Sie über Ernährung im Allgemeinen wissen sollten, ist im kurzen, jedoch sehr informativen Vorwort dieses sympathischen Buches prägnant zusammenfasst.
Da Essen auch etwas Emotionales ist: Kaufen Sie bitte die Ausgabe mit Abbildungen. Auch finde ich, der lokale Buchhandel sollte unterstützt werden.
2. Bas Kast: Der Ernährungskompass.
Ausführlich, zum Vertiefen. Der Autor fasst viele wichtige Kenntnisse über Ernährung im Wesentlichen zutreffend zusammen und gibt sinnvolle Ernährungsempfehlungen.
Meiner Meinung nach muss man dem Autor nicht in jedem Detail folgen, die Empfehlungen sind jedoch grundsätzlich zutreffend.
3. Robert H. Lustig: Sugar – The bitter truth
Robert Lustig ist ein sehr engagierter und sympathischer Kinderarzt aus Kalifornien, der seit langem stark übergewichtige Kinder behandelt und es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Gesellschaft über den schädlichen Einfluss unserer modernen Ernährung aufzuklären.
Es existieren verschiedene Vorträge von Dr. Lustig auf YouTube, die sehr informativ sind. Diese bereits etwas ältere Vorlesung ist hervorragend und beinhaltet eigentlich alles, was Sie wissen sollten. Der Vortrag ist auf englisch, jedoch mit deutschen Untertiteln.
In deutscher Sprache gibt es auch Sachbücher von Robert Lustig, auf Englisch ebenfalls ein Kochbuch.